KUBICKI-Kolumne: Gefährliche Politik ohne Bodenhaftung – Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Wolfgang Kubicki schrieb für Cicero Online folgende Kolumne:
In der Bild war am Donnerstag zu lesen, der Kanzler sei unzufrieden mit der Kritik, die aus der Wirtschaft an ihm geübt wird. Und in der Vorwoche soll er seine Fraktion ermahnt haben, sich mit Kritik an Lars Klingbeil zurückzuhalten, da dieser etwas „sensibel“ sei.
Das sind für sich genommen schon befremdliche Nachrichten. Aber während sich die Anführer unseres Landes in dieser neuen Zartheit probieren, vermelden die Maschinen- und Anlagenbauer einen Auftragsrückgang im August um 7 Prozent. Das Ifo-Institut veröffentlichte am Donnerstag eine Studie, die zudem noch einmal eindrücklich vor Augen führt, wie die unter Druck geratene Industrie das gesamte Wirtschaftswachstum ausbremst. Nach Jahren der Rezession wird der Aufschwung weiter verschoben. Niemand erwartet ernsthaft mehr als ein zaghaftes Wachstum unserer Wirtschaft – wenn überhaupt.

Und was macht unsere Bundesregierung angesichts dieser Lage? Der Vizekanzler hatte in der Kabinettsklausur die Laune als „Hauptgegner“ ausgemacht. Die „negativistische Haltung“ sei das Problem. Man brauche eine neue „Ruck-Rede“, soll angemerkt worden sein. Die Bundesregierung, die den „Herbst der Reformen“ erst verschoben hat, will jetzt die gute Laune verordnen.
In meiner Verzweiflung über so viel bizarren Realitätsverlust habe ich erklärt, dass die beteiligten Herren meine Laune wirklich gehoben haben – weil ich vor Lachen kaum vom Stuhl gekommen bin. Dabei ist die Lage eigentlich eher zum Weinen.
Offensichtlich halten die Damen und Herren in der Bundesregierung ihr Volk und ihre Wirtschaft für zu wehleidig, um die Genialität der Regierenden zu erkennen. Das erinnert in frapierender Weise an Altkanzler Scholz, der ja auch bis zuletzt den Eindruck zu erwecken versuchte, der letzte Deutsche mit politischem Durchblick zu sein. Ich kann diese realitätsverweigernde Selbstbesessenheit nicht mehr ertragen. Ich empfehle dringend einmal eine kritische Presseschau. Wem angesichts der realpolitischen Gemengelage nicht der Kragen platzt, der hat sich vom gesunden Menschenverstand verabschiedet.
So erfahren wir beispielsweise, dass jetzt geprüft wird, den Pflegegrad 1 abzuschaffen. Dieser wurde einst eingeführt, um durch frühzeitige Unterstützung, etwa bei Demenz, möglichst lange ein selbstbestimmtes und würdevolles Leben zu sichern. Niemand sucht sich aus, pflegebedürftig zu sein – dementsprechend ist die natürliche Reaktion auf solche Gedankenspiele, dass man sie kaltschnäuzig und unbarmherzig findet.

Aber nichts steht im politischen Raum isoliert. Und wenn wir nahezu gleichzeitig erfahren, dass die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2024 11,8 Milliarden Euro an Klimahilfen an andere Länder gezahlt hat, drängt sich der Eindruck bürgerverachtenden Zynismus’ auf. Ein Viertel der gesamten weltweiten Klimahilfen hat die Bundesrepublik seit 2015 geleistet, wie Reuters schon 2023 herausgefunden hat.
Schaut man in die geförderten Einzelprojekte, wie Axel Bojanowski es in der Welt getan hat, braucht man wirklich starke Nerven. 21 Millionen fließen etwa in die „genderverantwortliche Grünflächenentwicklung“ in Ruanda. Ich halte mich an dieser Stelle bewusst zurück und überlasse die Bewertung der Sinnhaftigkeit meinen klugen Leserinnen und Lesern. Keine Zurückhaltung habe ich hingegen mehr in der grundsätzlichen Bewertung solcher Tatsachen. Um es klipp und klar zu sagen: Es ist im höchsten Maße unanständig und verantwortungslos, derartige Summen für internationale Klimahilfen aufzurufen, während man die eigenen Bürger im Angesicht ihrer Pflegebedürftigkeit mit Hilflosigkeit bedroht. Und dabei ist mir natürlich bewusst, dass die Ampel hier mehr als genug davon zu verantworten hat. Es geht aber um die Prioritätensetzung in der Haushaltspolitik. Genau deswegen haben wir uns dem Diktum des damaligen Kanzlers Scholz verweigert.
Dabei ist das Thema wahrlich nicht neu. Wenn ich auf Veranstaltungen gefordert habe, die Entwicklungshilfe Deutschlands auf das Maß der übrigen G7-Staaten zurückzufahren, gab es dafür – unabhängig von der Zusammensetzung des Publikums – fast immer uneingeschränkte Zustimmung. Nicht, weil die Menschen die internationale Verantwortung der Bundesrepublik grundsätzlich infrage stellen. Sondern weil die Bürgerinnen und Bürger die Regierenden gerne daran erinnern, dass diese auch eine Verantwortung gegenüber der eigenen Bevölkerung haben. Beides muss in einer gesunden Relation zueinander stehen.

Und dabei ist die Rechnung eigentlich recht einfach: Wenn es uns gut geht, können wir auch mehr international leisten. Wenn wir den Karren in den Dreck fahren, können wir irgendwann gar nichts mehr leisten. Deswegen macht es Sinn, angesichts der maroden Struktur in unserem Verkehrswesen und an unseren Schulen sowie der alarmierenden Wirtschaftszahlen die Prioritäten auf die Ertüchtigung unserer Volkswirtschaft und Infrastruktur zu setzen – und eben nicht auf gendergerechte Grünflächenentwicklung in Ruanda.
Wenn Lars Klingbeil nicht versteht, dass diese Dinge – der Pflegegrad 1 und die Klimahilfen – in einem Zusammenhang stehen und dass der Frust einen sehr realen, sehr existenziellen Hintergrund hat, sollte er es lieber gleich sein lassen. Mit „Sollen sie doch Kuchen essen!“ auf begründeten Ärger reagieren, endete einst auf dem Schafott. Heutzutage entlädt sich der Frust glücklicherweise zivilisierter an der Wahlurne.
Auch der Kanzler hat überhaupt keinen Grund zur mimosenhaften Dünnhäutigkeit. Er hat viele Versprechungen gemacht und sie immer wieder gebrochen oder verschoben. Die Lage ist todernst. Alles, was wir an Produktion in unserem Land verlieren, werden wir so schnell nicht wieder ansiedeln können. Das ist die grausame, aber realistische Lage der Dinge – denn wir verlieren gerade eine Menge an Produktion. Wenn dann noch herauskommt, dass das geplante Tariftreuegesetz dazu führen kann, dass deutsche Unternehmen unter bestimmten Voraussetzungen bei öffentlichen Ausschreibungen benachteiligt werden, wundert es mich eher, dass die Wirtschaft noch relativ schonend mit dieser Bundesregierung ins Gericht geht. Die 100-Tage-Schonfrist ist vorbei. Dieser Regierung muss marktwirtschaftlicher Dampf gemacht werden – oder sie richtet sich in bräsiger Selbstgefälligkeit ein. Deutschland hat keine Zeit mehr.

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Text: Freie Demokratische Partei